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Title
Der kranke Rand des Reiches. Sozialhygiene und nationale Räume in der Provinz Posen um 1900


Author(s)
Turkowska, Justyna Aniceta
Series
Studien zur Ostmitteleuropaforschung 48
Published
Extent
426 S.
Price
€ 79,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Axel Hüntelmann, Institut für Geschichte der Medizin, Charite - Universitätsmedizin Berlin

Der Literatur zur Wissens- und Institutionengeschichte der Hygiene und Bakteriologie in Deutschland und in anderen – meist westeuropäischen – Ländern fehlte für die Zeit vor 1933 bislang der Blick gen Osten. Mit der Arbeit von Katharina Kreuder-Sonnen über Aufkommen, Zirkulation und Institutionalisierung bakteriologischen Wissens in Polen1 sowie der hier zu besprechenden Monographie von Justyna Aniceta Turkowska liegen nun zwei grundlegende Marksteine zur Geschichte der Hygiene und hygienischer Institutionen auf dem Gebiet des heutigen Polen vor.

Während Kreuder-Sonnen die Entwicklung der Bakteriologie und die Etablierung des Hygienischen Instituts in Warschau (im Austausch mit anderen bakteriologischen Einrichtungen in Europa) von den 1880er-Jahren bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges aus wissenschaftshistorischer Perspektive beleuchtet, wählt Turkowska für ihre Geschichte der (Sozial-)Hygiene in der preußischen Provinz Posen, einer Region mit einem hohen Anteil polnischsprachiger Bevölkerung im Osten des Deutschen Reiches, einen primär diskursgeschichtlichen Zugriff. Der chronologische Rahmen ihrer Arbeit wird durch die Gründung des Königlich Preußischen Instituts für Hygiene in Posen 1899 und die Übertragung der Zuständigkeit an die neuen polnischen Machthaber 1919 abgesteckt.

Die als deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte angelegte Studie fragt danach, wie sich sozialhygienische Maßnahmen in einer multikulturellen Region wie Posen in Diskursen und Praktiken niederschlugen, wo neben Deutschen (und wenigen Juden) eine sich als polnisch definierende bzw. definierte Bevölkerungsmehrheit lebte (S. 12). Zugleich war die Region an der östlichen Peripherie des Deutschen Kaiserreiches einer „aggressiven Germanisierungspolitik“ (S. 14) seitens der preußischen Regierung unterworfen und wurde in pathologisierender Metaphorik als „kranker Rand des Reiches“ (S. 5) tituliert. Mehr noch als anderswo gelte es in einem solchen Kontext, so Turkowska, sozialhygienische Maßnahmen und Konzepte nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines umfassenden biopolitischen Regimes zur sozialen Disziplinierung zu analysieren.

Vor diesem Hintergrund differenziert Turkowska ihre Fragestellung weiter aus und fragt danach, wie „Volkskrankheiten“ „sozio-kulturell gedeutet, national-politisch kodiert und biopolitisch gedacht wurden“, welche Formen sozialhygienischen Wissens entstanden und welche diskursiven Strategien bei dessen Popularisierung zum Tragen kamen (S. 15). Es geht somit um das Disziplinierungs- und Regulierungspotenzial der Hygiene und deren Vereinnahmung für nationalpolitische Anliegen in deutschen und polnischen Diskursen. Zudem nimmt die Arbeit die jeweiligen Akteure der sozialhygienischen Diskurse, Formen von Kooperation und Konkurrenz zwischen polnisch- und deutschsprachigen Sozialreformern und Interessengruppen sowie Prozesse diskursiver Aushandlung zwischen den preußischen Machteliten und der polnischen Mehrheitsbevölkerung in den Blick.

Die Studie basiert auf umfassenden Archivrecherchen in den Staatsarchiven Posen, Bromberg und Gnesen, dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv und dem Bundesarchiv in Berlin sowie einigen kirchlichen Archiven. Vor allem das Posener Archiv hat Turkowska ausgiebig ausgewertet. Weiterhin hat sie Tageszeitungen sowie Tätigkeitsberichte und Publikationen der von ihr untersuchten Vereine und Einrichtungen gesichtet. In dieser umfassenden Auswertung deutsch- und polnischsprachiger Quellen (und Literatur) liegt ein großer Gewinn der Studie.

Am Beispiel der drei sogenannten „Volksseuchen“ Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus untersucht Turkowska jeweils für beide Sprachgruppen in der Provinz Posen die auf dem Gebiet der Sozialhygiene tätigen Akteure, die einschlägigen Diskurse, die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung wie Vorträge und Ausstellungen als Mittel der Aufklärung und schließlich „Heilstätten als Orte der gesellschaftlichen Genesung“. Die sozialhygienischen Debatten werden diskursanalytisch untersucht, wobei Turkowska auch „alle Praktiken – sowohl textuelle als auch handlungsorientierte Popularisierungspraktiken und -strategien“ diskursiv betrachtet (S. 20).

Als weiteren methodischen Zugriff bezieht sie Ansätze der Postcolonial Studies ein, denn wie sie im Anschluss an David Blackbourn und Sebastian Conrad argumentiert, richteten sich Deutschlands koloniale Phantasien weniger auf den globalen Süden als auf den Osten Europas (S. 24). Diese (post)koloniale Perspektive überzeugt insofern, als sie die Aufmerksamkeit für die pathologisierende Wahrnehmung der östlichen Peripherie seitens der deutschen Machthaber und die damit verbundenen Zivilisierungsansprüche, für die Machtasymmetrien zwischen Herrschern und Beherrschten in der Region sowie für die Emanzipierungsprozesse der polnischen Bevölkerung in Posen schärft.

Auf die ausführliche Einleitung und Methodendiskussion folgen historische Basisinformationen über die politische, gesellschaftliche und konfessionelle Situation in der Provinz Posen. Die weiteren Kapitel sind entlang der dominierenden sozialhygienischen Diskurse chronologisch organisiert. Zunächst werden die Gründung und Etablierung (bzw. eher die Probleme bei der Etablierung) des Posener Hygiene-Instituts dargestellt. Das Kapitel „Hygienische Nischen“ stellt die auf dem Feld der Sozialhygiene tätigen Akteure vor, bevor anschließend die sozialhygienischen Diskurse und Narrative über die sogenannten „Volksseuchen“ Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus analysiert werden. Die letzten beiden Kapitel widmen sich den Hygieneausstellungen in der Provinz Posen als Mittel der Wissenspopularisierung sowie den Heilstätten als Orten der therapeutisch-stationären Behandlung von Tuberkulose und Alkoholismus. Die Studie ist stringent strukturiert, und die komplex verwobenen Untersuchungsebenen (Akteure, Narrative, Wissenspopularisierung) werden überzeugend am Beispiel der drei Volkskrankheiten durchdekliniert – wiederum untergliedert in deutsch- und polnischsprachige Diskurse.

Im Ergebnis kann Turkowska zeigen, wie die im Deutschen Reich (bzw. in Europa) geführten (sozial)hygienischen Diskurse in der Provinz Posen adaptiert wurden. Dabei ging es keineswegs nur um gesundheitliche Belange und die „Hebung der Volksgesundheit“. Vielmehr wurden bei der Tuberkulosebekämpfung immer auch Klassenfragen mitverhandelt; Diskurse über Geschlechtskrankheiten berührten Fragen der Reproduktion (und des Geschlechts); und die Bekämpfung des Alkoholismus zielte hintergründig auf die Hebung von Moral und Sittlichkeit ab. Ferner macht Turkowska deutlich, wie die sozialhygienischen Diskurse als biopolitisches Instrument zur nationalen Disziplinierung und Machtausübung fungierten. Deutsch- und polnischsprachige Sozialreformer arbeiteten kaum zusammen – außer bei der Bekämpfung der Tuberkulose, bei der man sich am ehesten auf gemeinsame Ziele einigen konnte –, sondern versuchten meist, die sozialhygienischen Diskurse und Maßnahmen für ihre jeweiligen Zwecke einzuspannen. Überzeugend arbeitet Turkowska heraus, dass in den deutschsprachigen Diskursen der „Volkskörper“ und die „Hebung der Volksgesundheit“ im Mittelpunkt standen, während die polnischsprachigen Akteure sozialhygienische Maßnahmen als Beitrag zur Stärkung der polnischen Nation und ihrer nationalen Gesinnung propagierten.

Als weiteren Befund stellt Turkowska heraus, wie wenig wirkmächtig das 1899 gegründete Königlich Preußische Institut für Hygiene in der Praxis war. Auch die Diskurse und Aktivitäten anderer deutschsprachiger Akteure erscheinen seltsam kraftlos. Obwohl die jeweiligen deutschsprachigen Vereine (zur Bekämpfung von Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus) und Sozialhygieniker die deutschen Amtsträger der Region als Förderer und Unterstützer hinter sich wussten, blieb ihr Erfolg begrenzt. Denn meist beschränkten sie sich darauf, Ausstellungen oder Broschüren aus anderen Teilen des Reiches ohne nennenswerte regionale Adaption zu übernehmen, und auch an einer Einbeziehung der polnischsprachigen Bevölkerung zeigten sie nur geringes Interesse – obwohl es doch gerade deren vermeintlich ungenügenden Gesundheitszustand zu „heben“ galt.

Allerdings blieben auch die polnischsprachigen Sozialreformer mit ihren Aktivitäten hinter den eigenen Erwartungen zurück. Zum einen gelang es ihnen nicht, neben der katholischen Kirche die polnische Inteligencja als Trägerin der Bewegung mit einzubeziehen; zum anderen mangelte es ihren Aktionen oft an Breitenwirkung, weil ihnen die finanzielle und organisatorische Unterstützung der staatlichen Institutionen fehlte. Gleichwohl zeigt Turkowska, dass die polnischsprachigen Akteure durchaus Gestaltungsspielräume zu erobern in der Lage waren, indem sie die durch die sozialhygienische Reformbewegung geschaffenen Nischen zu nutzen wussten. Indem sie gezielt die dadurch entstehenden Aushandlungsprozesse in den Blick nimmt, bricht Turkowska die Dichotomie von Herrschenden und Beherrschten sowie von Macht und Ohnmacht auf.

Im Lichte dieser gewichtigen Befunde sind die Kritikpunkte nebensächlich. So führt Turkowska in ihrem Kapitel über die Geschichte des Posener Hygiene-Instituts die Kluft zwischen den großen Erwartungen, mit denen diese Einrichtung gestartet sei, und ihren weit dahinter zurückbleibenden Ergebnissen auf innerinstitutionelle und personelle Konflikte, Widersprüche zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Praxis sowie mangelnde Ressourcenausstattung zurück. Hier wäre allerdings zu fragen, ob dies ein Spezifikum der Peripherie war oder ob es sich nicht vielmehr um einen typischen institutionellen Prozess handelt, der sich ähnlich auch am Beispiel anderer deutscher Medizinal-Untersuchungsanstalten dieser Zeit beschreiben ließe. Ebenso wenig lassen sich die Konflikte innerhalb des Instituts mit rein persönlichen Animositäten erklären, denn die Auseinandersetzungen zwischen dem Institutsdirektor Erich Wernicke und seinem Abteilungsleiter Otto Lubarsch haben auch eine wissenschaftshistorische Komponente und beruhten auf wissenschaftlichen Unterschieden zwischen Bakteriologen, Pathologen und Sozialhygienikern.

Angesichts des Zuschnitts der Arbeit mag ein diskursgeschichtlicher Ansatz sinnvoll sein, aber durch die entschiedene Fokussierung auf Diskurse hat man zuweilen das Gefühl, dass Personen, Praktiken und Institutionen allzu sehr in den Hintergrund treten. So bleibt die Wirkung wissenschaftlicher und sozialer Praktiken unbefriedigend erfasst, zumal diese sich in den verschiedensprachigen Communities nicht wesentlich unterschieden haben dürften. Auch die Diskrepanzen zwischen Diskurs und Praxis (die Turkowska am Beispiel des Hygiene-Instituts durchaus thematisiert) bleiben oftmals ausgeblendet. Die Studie besticht denn auch insbesondere im letzten Kapitel mit Anschaulichkeit, in dem Heilstätten als Orte der Genesung behandelt werden und deutlich wird, was man sich unter Sozialhygiene eigentlich vorzustellen hat. Gerade an diesen Orten zeigt sich auch, dass die diskursiv konstruierten Grenzen zwischen deutsch- und polnischsprachigen Handlungsräumen durchaus brüchig waren. Dies lässt sich etwa am Beispiel von Paweł Gantkowski zeigen, der sowohl in deutsch- als auch polnischsprachigen Vereinen tätig war, aber auch an Erich Wernicke, dem Leiter des Posener Hygiene-Instituts (dessen Ergo-Biographie von Erika Schulte Turkowska nicht berücksichtigt2). Der Umstand nämlich, dass ein preußisch-deutscher Institutsdirektor, der zumal am Krieg als beratender Hygieniker teilnahm, nach Kriegsende die Übergabe des Instituts in polnische Hände mitorganisierte und bei der von polnischer Seite ausgerichteten Abschiedszeremonie mit versöhnlichen Tönen verabschiedet wurde, mutet doch außergewöhnlich an.

Die wesentliche Kritik, die man hieran anschließen könnte, nimmt Turkowska in ihrem Schlusswort klug vorweg. Diese betrifft die Begrenzung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit vor 1919. Denn die Konstellation in Posen kehrte sich danach ja um: Nun lag die Region nicht mehr an der Peripherie des Deutschen Reiches, sondern des polnischen Staates. Wie veränderten sich jetzt die sozialhygienischen Diskurse und Zuschreibungen, wie veränderte sich die Arbeit des Hygiene-Instituts und der Sozialreformer, welche sozialhygienischen Maßnahmen wurden nun propagiert, kommuniziert und umgesetzt? Turkowska möchte ihre Studie als Impuls verstanden wissen (S. 356), dem in der Tat weitere Arbeiten folgen sollten.

Diese Einwände ändern nichts am Gesamturteil, nämlich dass es sich um eine dicht geschriebene und äußerst informative Studie handelt, der viele Leser*innen zu wünschen sind. Turkowskas Buch liefert einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte der Sozialhygiene und der Medizin im Osten des Deutschen Kaiserreiches sowie letztlich zur Geschichte der Sozialhygiene in Deutschland und Polen und ihrer beiderseitigen Verflechtung.

Anmerkungen:
1 Katharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin 1885–1939, Tübingen 2018, rezensiert für H-Soz-Kult von Katrin Steffen am 7.1.2020, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27590> (29.06.2021).
2 Erika Schulte, Der Anteil Erich Wernickes an der Entwicklung des Diphtherieantitoxins. Eine medizinhistorische Untersuchung zur Entwicklung der Serumtherapie am Beispiel des Diphtherieantitoxins unter Berücksichtigung der Bioergographie des Geheimen Medizinalrates Professor Dr. Erich Wernicke, Berlin 2001 (zugleich Diss. med. FU Berlin 2001).

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